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Licht ohne Gestalt
Ich höre von Dir, mein Lieber, dass Du mich als Lichtgestalt siehst und dass Du glaubst, ich wäre ohne Fehler und ein großes Vorbild.
Deine Worte machen mich verlegen. Ich muss Dich aber enttäuschen. Ich erzähle Dir besser etwas von mir, das Dir schnell zeigen wird, dass ich keine Lichtgestalt sein kann.
Als Lichtgestalt tauge ich nicht viel, da ich mit den Füssen, ach was, bis zum Bauch, im Sumpf verhaftet bin. Lichtgestalten schweben über den Dingen, ich bin nur in den Dingen gebunden. Aber der Kopf auf den viel zu schweren Schultern ist frei, die Ohren sind nicht verstopft und nicht auf Durchzug, die Nase tastet die Luft ab nach den wenigen Düften der Freiheit, der Mund spricht aus, was alle Sinne formulieren. Und mittendrin, da bin ich mit meinem kleinen Verstand und wundere mich über all das, was da in breiten Strömen in mich hinein fließt und sich als kleine Tröpfchen wieder einen Weg nach draußen bahnt. Und ich bin die Letzte, der keine Fehler macht, auch wenn sie immer mir gehören.
Ich fühle mich ertappt. Ja, ich möchte den Menschen den Halt geben, den ich selbst habe, gerade weil ich im Sumpf stecke. Ja, ich wünschte, es gäbe ein Vorbild, an dem ich mich orientieren könnte. Ja, ich möchte versuchen, durch mein Verhalten das Vorbild zu finden, dass es irgendwo geben muss, nur verschollen, nur versteckt oder völlig unscheinbar. Ich möchte es herauslocken, damit es sich zu erkennen gibt. Dieses Vorbild suche ich, solange ich denken kann. Und je älter ich werde, umso mehr erahne ich, dass ich es nur nicht sehen kann, es längst da ist und ich nur viel zu blind und taub bin und zu gering. Ist es denn wirklich ein Mensch? Kann es das überhaupt sein? Ist nicht alles um uns herum und sogar in uns selbst genau das, was ich suche? Wir suchen sie, die Lichtgestalten, die personifizierten Werte für das Sinn gebende Leben. Warum finden wir sie nicht?
Als ich noch jung war, habe ich eine Geschichte geschrieben: „Das Vorbild“. In dieser Geschichte beschrieb ich einen Menschen, der sich mit aller Energie für das Leben um ihn herum eingesetzt hatte. Er schaffte sich sein Paradies und es sollte die Keimzelle und Zentrum sein für neues und altes Leben. Als er alt geworden war, verließ er sein Paradies, ging in die Menschenwelt und erzählte überall von seinem wundervollen Paradies. Doch er kam zu spät. Man hörte ihn nicht, man verstand ihn nicht. Da kehrte er endlich müde und erschöpft zurück und wollte nur noch in der Mitte des Lebens sterben. Sein Paradies aber war bereits von der Menschenwelt mit einem hohen Zaun versehen worden und wurde streng bewacht. „Menschen müssen draußen bleiben“, stand auf großen Schildern, vor denen er starb, ohne jemals wieder in sein Paradies zu kommen. Sein letzter Gedanke war: „Warum nur habe ich so lange gewartet?“
In der Geschichte stecke ich irgendwie drin. Und je älter ich werde, umso mehr frage ich mich: „Worauf wartest Du denn noch?“ Ich spüre, dass wir unsere Welt verlieren, die Zäune stehen doch längst aufgebaut vor uns. Ich suche das Vorbild aus meiner Geschichte – irgendwann muss er doch aus seinem Paradies kommen und etwas davon erzählen, um uns auf seine Art zu retten. Warte ich vergeblich oder ist er längst da und ich höre ihn genauso wenig wie alle anderen? Warum lese ich die Schilder nicht?
Da ist eine Kraft in mir, die mich rastlos vorantreibt, oft vor mich her. Ich ahne, dass wir nur gemeinsam dieses Vorbild hören und verstehen werden. Nur gemeinsam mit allen Sinnen. Aber wie sollen die vielen Anderen diesen gemeinsamen Gedanken erleben, sind sie doch jeder für sich ebenso unfähig dazu, wie ich es auch bin. Und damit sind wir beim Jetzt. Ich sende und sende und suche die Frequenzen, dann lausche ich, lausche und lausche und dann ist da so ein leises Rauschen, ganz weit weg direkt neben mir. Ja, da sind sie, die Anderen. Nur noch besser justieren, der Anfang ist doch gemacht, und wir müssten uns doch schon fast fühlen können hinter dem Zaun bei den Schildern…
Ich glaube fast, mein Lieber, Du hast es schon fühlen können. Nur, dass nicht ich das war, den Du spürtest, sondern das Vorbild aus meiner Geschichte. Wenn Du es durch meine Senderei fühlen konntest, dann macht es mir großen Mut, dass auch ich über Dich nicht draußen bleiben muss. Und wenn wir dies einem Anderen auch noch gemeinsam senden könnten, dann können wir auch unser Paradies retten – ganz ohne Lichtgestalten.
Wetterleuchte
Gruß aus dem schönen Wendland + Washington DC
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